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Wir sind am Ende der 1920er Jahre – in der Zeit, als Emden zu einem Tempel kam, dem Chinesentempel. Sie stehen direkt davor und dürfen sich ruhig wundern. Zugegeben, dieses Gebäude bricht mit Vorstellungen. Es ist nicht das, was man von einem Tempel erwartet. Seinem Namen zum Trotz hat es nie einer Religion als Heiligtum gedient. Um ehrlich zu sein, war sein ursprünglicher Zweck ein ganz profaner. Gebaut wurde das kleine runde Haus mit dem besonderen Dach als Kiosk und als öffentliche Toilette – damals hieß das noch Bedürfnisanstalt.

So alltäglich seine Bestimmung, so ungewöhnlich ist das Bauwerk selbst. Ohne Ecken und Kanten, das Dach wie ein Zauberhut, getragen von gewundenen Säulen, gehört der Chinesentempel zu den Zeugen des expressionistischen Baustils in Emden. Auf Ihrem Weg durch die Stadt werden Ihnen mit dem AOK-Gebäude und dem ehemaligen Apollo-Theater in der Straße Zwischen beiden Bleichen oder mit der Herrentorschule an der Straße Am Herrentor weitere dieser „Expressionisten“ aus dunklem Backstein begegnen - entworfen von den Stadtarchitekten Walter Heim und Walter Luckau. Der Chinesentempel, die Boltentorbrücke, an der er steht, und die Straßenlampe an der gegenüberliegenden Seite entstanden am Schreibtisch von Luckau. Wie es damals beim Design von Geschirr, in der Literatur und auch Architektur angesagt war, gab er ihnen einen leicht asiatischen Touch. So kam Emden zueiner fernöstlich angehauchten Bedürfnisanstalt und der Chinesentempel wohl zu seinem Namen. Das Gebäude besitzt sogar noch einen zweiten Spitznamen: Nach dem damaligen Oberbürgermeister Wilhelm Mützelburg wurde es auch

die „Mützelburg“ genannt.
Das ursprüngliche Dach aus Kupfer hat den zweiten Weltkrieg übrigens nicht überlebt. Anfang April 1940 wurde es auf Befehl der Nazis abgedeckt. Wie die Zeitungen damals berichteten, sollte das wertvolle Metall in die Geburtstagsspende des deutschen Volkes an den Führer einfließen. Danach blieb das Gebäude für lange Zeit oben nackt. Die Stadt Emden setzte ihm dann Anfang der 80er Jahre einen neuen Hut auf, der allerdings etwas anders aussieht, als das Original.

Heute ist der Chinesentempel Künstlerwerkstatt und Galerie. Er bildet mit der Brücke und der Straßenlampe eine Einheit, zusammen sind die drei ein Kulturdenkmal.